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Title
Freie Zeit. Eine politische Idee von der Antike bis zur Digitalisierung


Author(s)
Ritschel, Gregor
Series
X-Texte zu Kultur und Gesellschaft
Extent
271 S.
Price
€ 28,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Hannah Ahlheim, Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen

„Free days for future!“, mit diesem Kapitel schließt Gregor Ritschels Geschichte der „politischen Idee“ der „freien Zeit“. Der Ansatz, die Geschichte der Zeit und ihrer Nutzung entschieden als politische Geschichte zu begreifen, macht Ritschels Reise von der Antike bis in die Gegenwart zu einer aktuellen Lektüre. Es gelingt dem Politikwissenschaftler in seinen eher als Essays konzipierten Kapiteln, Lust zu machen auf mehr „Zeit-Geschichte“ und Anstöße zu geben für ein Nachdenken über Zeitpolitik und Zeitpraktiken in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Ritschel stellt die Verfügungsgewalt über Zeit als entscheidenden Baustein einer solidarischen, nachhaltig organisierten und demokratischen Gesellschaft vor. Oft bleibe jedoch „schlicht unreflektiert, dass Freiheit nichts ist ohne ein ausreichendes Maß an freier Zeit“ (S. 169f.). Ein selbstbestimmter Umgang mit „freier Zeit“ berge die Chance „für die Wiedergewinnung der Menschlichkeit bzw. für den Ausgang aus der Entfremdung“ (S. 87f.). Im Schlusskapitel diskutiert Ritschel daher Möglichkeiten für einen gesellschaftlichen Wandel durch Zeit-Freiräume. Er denkt über genossenschaftliche Gegenmodelle zum kapitalistischen „Zeitmarkt“ nach und über die Chancen eines Grundeinkommens, das selbstbestimmtes, „multiaktives“ Engagement in der Gesellschaft ermöglichen könnte.

Damit greift Ritschel ein schon lange und intensiv diskutiertes Thema auf, das sowohl in der Politik als auch in der Geschichtswissenschaft seit mehreren Jahren noch einmal an Relevanz gewonnen hat. Die IG Metall etwa hat 2017 eine Kampagne mit dem Slogan „Mein Leben – meine Zeit“ ins Leben gerufen.1 Historikerinnen und Historiker setzen sich mit Zeitpraktiken, Zeitregimen und Arbeitszeit auseinander.2 Auch Ritschels Publikation ist letztlich ein Buch über die Arbeit im Kapitalismus und über die Logik eines Wirtschaftssystems, das Zeit als knappes Gut erscheinen und die Grenze zwischen „freier Zeit“, „Freizeit“ und „Arbeit“ verschwimmen lässt.

Ritschels Beitrag zu dieser Debatte ist nun eine klassische Ideengeschichte, die die Werke großer Denker der letzten 2000 Jahre auf das Thema „freie Zeit“ hin abklopft und fragt, wie sie „freie Zeit“ immer auch in Abgrenzung zum „Gegenbegriff“ (S. 20) der Arbeit in unterschiedlichen historischen Situationen beschrieben und bewertet haben. Im ersten Kapitel treten Aristoteles, Platon und Thomas Morus auf; nach einem „Exkurs“ in die Anthropologie und Soziologie (Sahlins, Lévi-Strauss, Weber) folgen Hobbes, Rousseau und Kant, Mill, Tocqueville und Marx. Für das 20. Jahrhundert sprechen Habermas, Marcuse, Negri und Gorz, während im 21. Jahrhundert Rosa, Boltanski/Chiapello und Piketty nicht fehlen dürfen. Gegen Ende, in einem Unterkapitel zu Ungleichheit und Care-Arbeit, finden mit Fraser, Haug und Winker feministische Perspektiven kurz einmal Erwähnung.

Bei diesem Ritt durch die Ideengeschichte stößt die Leserin auf oft erstaunlich aktuelle Debatten und Vorstellungen. Doch dafür gerät die konkrete historische Situation, in der die beschriebenen Ideen über „freie Zeit“ entstanden, manchmal aus dem Blickfeld. So unternimmt Ritschel gleich im zweiten Kapitel den schon erwähnten „Exkurs“ in die Anthropologie, der die Zeitpraktiken von „Jäger-und-Sammler-Kulturen“ beschreibt. Viele ethnographische Studien des 20. Jahrhunderts verwiesen darauf, dass freie Zeit nur in modernen Gesellschaften ein knappes Gut sei, so Ritschel. Bei „nomadisch lebenden Ureinwohnern Australiens“ etwa habe die wöchentliche Arbeit nur 20 bis 35 Stunden betragen, wie Beobachtungen aus dem Jahr 1948 zeigten. Erst die in der kapitalistischen Produktions- und Konsumgesellschaft geschaffenen „künstlichen“ Bedürfnisse erzeugten dann die Notwendigkeit gesellschaftlicher Mehrarbeit und führten zu einer Zeitverknappung. Die vorgestellten anthropologischen Arbeiten bettet Ritschel allerdings nicht in ihren Entstehungskontext ein, sodass der möglicherweise kolonial-ethnographische Blick aus der „modernen“ Gesellschaft auf vermeintlich „ursprünglichere“ „Ureinwohner“ ungebrochen weitergeführt wird.

Immer wieder stellt Ritschel in seinem Buch aber Bezüge zu aktuellen Debatten her. In einem Unterkapitel mit der schönen Überschrift „Lange Nächte und vergessene Träume“ folgen wir zunächst einer längeren Zusammenfassung von Arbeiten über das Phänomen der „freien“ Zeit in den USA vom späten 18. bis ins 20. Jahrhundert. Dann sausen wir von Isaac Asimovs Science-Fiction 1964 über das US-amerikanische Wirtschaftswachstum der 1980er-Jahre gemeinsam mit Jacques Rancière zurück ins Frankreich der 1830er-Jahre und in die mit Träumen, Malen und Dichten gefüllte „Nacht der Proletarier“. Von dort aus sind wir nach wenigen Seiten in der deutschen Gegenwart, beim Wissenschaftszeitvertragsgesetz. Im anschließenden „illustrativen“ Kapitel über den „Haymarket-Zwischenfall“ in Chicago 1886, bei dem es im Rahmen von Demonstrationen zur Durchsetzung des Achtstundentags blutige Auseinandersetzungen gab, schlägt Ritschel vor, die „Gegenkultur“ der sozialistisch und anarchistisch orientierten Arbeiter:innen der 1880er-Jahre mit der Fridays for Future-Bewegung von heute zusammenzudenken. Schließlich gehe es beiden Bewegungen um „Solidarität“ und ein „Engagement für mehr freie Zeit“ in Abgrenzung vom Wachstumsdenken (S. 114).

Das Aufbrechen der chronologischen Ordnung macht Kontinuitäten kenntlich und historische Ideen für eine Orientierung in der Gegenwart nutzbar. Die ständigen, manchmal recht assoziativen Sprünge und Aktualisierungen vermitteln allerdings den etwas unbefriedigenden Eindruck, dass es irgendwie immer und überall um Arbeit, Zeit und Muße ging, wenn auch doch irgendwie unterschiedlich. Gerade für das Nachdenken über Machtstrukturen, soziale Ungleichheiten und Emanzipationskämpfe wäre die Analyse der jeweils konkreten historischen Situation, die Ideen formen, ermöglichen oder vergessen lassen kann, zentral gewesen. Schade ist auch, dass Ritschel vor allem alte Bekannte liest und historiographische Studien zu Zeit und Arbeit nur selektiv rezipiert.3 Der Blick auf gesellschaftliche Aushandlungsprozesse jenseits der großen Denker hätte die Argumente noch einmal schärfen können und eine genauere Einordnung der Denkwelten in ihre sozialen und ökonomischen Kontexte ermöglicht. Dies wäre nicht zuletzt auch für die Zeit-Geschichte der Automatisierung und Digitalisierung ein Gewinn, etwa mit einem vergleichenden Blick auf kapitalistische und sozialistische Produktionsregime.

Doch Ritschel möchte mit seiner historischen Collage wohl vor allem einen Beitrag zu Debatten der Gegenwart leisten. Seine Skizze einer Ideengeschichte der „freien Zeit“ verweist auf die Frage nach tief verankerten gesellschaftlichen Machtverhältnissen und legt es nahe, über historisch informierte „Gegenkulturen“ im Umgang mit Zeit heute nachzudenken. Wenn es mehr Nischen gäbe für „freie Zeit“, könnte vielleicht auch „ein neuer antikapitalistischer Lebensrhythmus Fuß fassen“, der „Wohlstand“ neu denkbar macht: als „qualitatives Empfinden“ eines guten Lebens und nicht als „Anhäufen von materiellen Ressourcen“ (S. 245). So wird der von vielen ganz privat geträumte Traum von mehr „freier Zeit“ zu einer politischen Aufgabe der Gegenwart.

Anmerkungen:
1https://www.igmetall.de/ueber-uns/kampagnen/mein-leben--meine-zeit (24.11.2022).
2 Die Tagung der German Labour History Association (GLHA) 2022 stand unter der Überschrift „Arbeit/Zeit. Umkämpfte Beziehungen und umstrittene Deutungen im 19. und 20. Jahrhundert“: https://www.hsozkult.de/event/id/event-116548 (24.11.2022). Vgl. auch den Bericht von Olga Sabelfeld zu einer Tagung vom September 2021: Chronopolitics: Time of politics, politics of time, politicized time, in: H-Soz-Kult, 27.01.2022, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-127839 (24.11.2022).
3 Es fehlen etwa Alexander C.T. Geppert / Till Kössler (Hrsg.), Obsession der Gegenwart. Zeit im 20. Jahrhundert, Göttingen 2015; Dietmar Süß, Der Sieg der grauen Herren? Flexibilisierung und der Kampf um Zeit in den 1970er und 1980er Jahren, in: Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael / Thomas Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016, S. 109–128; Fernando Esposito (Hrsg.), Zeitenwandel. Transformationen geschichtlicher Zeitlichkeit nach dem Boom, Göttingen 2017; Caroline Rothauge, Es ist (an der) Zeit. Zum „temporal turn“ in der Geschichtswissenschaft, in: Historische Zeitschrift 305 (2017), S. 729–746.

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